Was ist schon normal?

Ein regnerisches Wochenende ist vorhergesagt aber das stört uns nicht, wir haben eine tolle Dachgeschosswohnung mit Badewanne in Strasbourg gemietet. Über Too Good To Go besorgen wir uns ein reichhaltiges Abendessen, das wir mit hochgelegten Füßen auf der riesigen Dachterrasse genießen. Als es wieder trocken ist, folgen wir den Tips unseres Vermieters durch die Stadt.

Dann sind es nur noch wenige Kilometer und wir sind wieder in Deutschland. In Speyer steuern wir den Biergarten des Brauhauses an, später lassen wir uns Federweißer am Flussufer schmecken. Abgesehen von unserer Probetour nach Bautzen ist es für uns beide das erste Mal radreisen in Deutschland, also definitiv Neuland für uns. Gleich zu Beginn haben wir ein paar skurrile Eingeborenen-Erlebnisse auf der Suche nach Schlafplätzen. Einmal stehen wir vor einem Campingverein, der keine Tagesgäste aufnimmt. Aha, Campingplatz ist nicht gleich Campingplatz, bei diesen Vereinen ist das Prinzip Camping überwunden, die Wagen sind alle fest auf ihren Plätzen integriert. Bei einem anderen Verein haben wir letztendlich Glück, auch wenn die Begrüßung kühl ausfällt. Christian steht vorne am Tor, klingelt, und fragt den Platzwart, der sich beim zweiten Läuten zeigt, ob auch Reisende hier einen Schlafplatz finden können. Der Hüter des Tores beäugt uns skeptisch bevor er eine Antwort gibt. Wir dürfen schließlich unser Zelt aufschlagen.

Wir fahren den Rhein entlang, auch wenn wir diesen dubiosen Fluss, nach dem der Radweg benannt ist, zunächst nicht zu Gesicht bekommen. Immer geht der Weg entweder hinterm Deich entlang oder es liegen Überschwemmungswiesen zwischen uns und dem Wasser. Dafür duftet es zwischen den Apfelbäumen herrlich herbstlich. Erst kurz vor Mainz zeigt sich uns der breite Strom endlich. Dann verengt sich das Flusstal und es geht durch die wunderschöne Welterbe Kulturlandschaft Oberes Mittelrheintal, zwischen Bingen und Koblenz. Ja, es ist wirklich schön an der Loreley aber auch unglaublich verkehrsüberlastet. Den Blick auf Burgen und Schlösser kreuzen die eng getakteten Züge, auf dem Fluss überholen sich Last- und Personenkähne, die Luft ist kondensstreifengemustert und zwischen Straße und Ufer quetschen sich die Caravans eng an eng.

Irgendwo überholen wir eine ungewöhnliche Radlertruppe. Alle fahren auf einem Personenbeförderungs-Lastenrad. An der nächsten Radwegkarte stoppen wir, um unsere Optionen abzuwägen, da holt uns die Gruppe wieder ein. Ihr Leiter entpuppt sich im Übrigen auch als Planer der Radwege der Gegend und empfiehlt uns den Weg durchs Grüne. Neben seiner planerischen Tätigkeit hat er auch die Initiative „Radeln ohne Alter“ ins Leben gerufen, die unter dem Motto „Jeder hat ein Recht auf Wind in den Haaren“ unentgeltlich Senioren- und Pflegeeinrichtungen anfahren und die Bewohner, die das wünschen, auf Spazierfahrten mitnehmen. Bei diesem Zeitgeschenk, das die Piloten ihren Fahrgästen machen werden Geschichten ausgetauscht, die Landschaft gemeinsam wahrgenommen, die Umgebung und ihre Mitmenschen kennengelernt. Eine richtig tolle Sache finden wir.

Vorbei geht es an den Resten der Brücke Remagen und Holzskulpturen. Fast hätten wir den geheimen Garten verpasst aber drehen dann neugierig doch nochmal um. Ein Künstlerpaar zitiert Novalis: „Die vollendete Spekulation führt zurück zur Natur“ in der Gestaltung eines verwachsenen Stück Landes in Rolandswerth. Und schon sind wir in Köln. Quasi der erste Halt auf unserer „Da sind wir wieder“ Tour, denn mein Festivalfreund Achim lässt uns auf seiner Couch schlafen. Dabei werden wir schmunzelnd Zeugen von dem Schauspiel auf dem Platz zwischen Dom und Brücke: zur Probenzeit der Philharmonie werden Passanten gebeten, nicht über den hochkant gepflasterten Platz zu gehen, da der Trittschall direkt in den darunter liegenden Probensaal geleitet wird. Lieber regelmäßig Ordungskräfte bezahlen, als einmal neu pflastern, hallo Deutschland 🙂 Trotz Abratens des Wahlkölners machen wir gleich danach Halt in Düsseldorf, bei einem ehemaligen Arbeitskollegen von Christian. Dieser kann wiederum nicht verstehen, wieso wir Köln soviel Zeit geschenkt haben. Obwohl beide nicht gebürtig aus der jeweiligen Stadt stammen, haben ihre Herzen im Laufe der Zeit also schon Wurzeln in der aktuellen Wohnstadt schlagen können 😉

Die Strecke über Duisburg könnte man links liegen lassen, wäre da nicht der tolle Landschaftspark, den wir Dank Philipps Tip anradeln. Eine ehemalige Hütte wird kulturell umgenutzt, der Hochofen ist begehbar, der Deutsche Alpenverein hat hier seine tiefstliegende Alpenhütte auf 26 Metern über Normalnull, das Gasometer ist nun das größte Indoor-Tauchbecken Europas in dem unter anderem ein Flugzeug erkundet werden kann. Ein toller Abenteuerspielplatz mit beeindruckenden Impressionen aus der industriellen Hochzeit der Region. Weiter geht es dann fast ausschließlich auf Radwegen durch das überraschend grüne Ruhrgebiet. Einige unterstellen uns, wir müssten doch mit dem Zug abgekürzt haben, so schnell, wie wir voran kommen, tatsächlich aber ist die Strecke recht flach und Deutschland einfach gar nicht so groß.

Und dann ist er da, mein letzter Reisetag. In Münster singen Fußgänger auf der Straße zum Glockenspiel, ein Schild begrüßt uns im Osnabrücker Land und nachdem es noch einmal steil über einen kleinen Bergrücken geht (seit Wochen das erste Mal wieder bergauf, die Oberschenkel hab ich am nächsten Tag ordentlich gespürt!), begrüßt mich das Ortseingangsschild Bissendorf. Wir rollen vor die Haustür, da steckt grade meine Oma ihren Kopf hinaus, besser hätte man es nicht planen können. Meinen Papa kann ich kurz bevor er beim Chorkonzert scheinen wird das erste Mal wieder drücken. So trubelig ist der erste Abend. Christian bleibt ein paar Tage, dann wird er sich auf den Weg nach Chemnitz machen und die letzten Kilometer allein auf dem Rad zurück legen.

Und was ist nun schwerer? Zu Beginn habe ich geschrieben, das Härteste kommt ganz zu Anfang, wenn der Abschied auf ungewisse Zeit von all den Lieben ansteht. Es ist wunderschön, meine Familie wiederzusehen und ich freue mich schon wahnsinnig darauf, wenn ich meine Freunde treffe, in deren Leben ja auch so viel passiert ist, an dem ich nur sehr peripher Anteil nehmen konnte. Aber der Abschied von der großen Freiheit, vom gewohnten Reisealltag fällt unheimlich schwer. Im Moment ist die Vorstellung, wieder nach anderer Leute Regeln zu spielen so abschreckend wie für manch anderen, am Morgen nicht zu wissen, wo man abends das Zelt aufschlagen wird. So ist eine Reise von Abschieden eingerahmt und Ungewissheit.IMG_20190921_173818

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