Valencia, du Schöne

Den familiären Exkurs nach Lübeck sind wir beide leicht erkältet angetreten. Die Auszeit in Malaga war nicht lang genug, um uns wirklich auszukurieren und verschnupft schwimmen gehen war vielleicht auch nicht die beste Idee. Aber da wir uns nun von der Küste abwenden, wollte ich mich eben vom Meer verabschieden. Anstatt den Weg über die Sierra Nevada und den höchsten Straßenpass Europas, wählen wir die Höhennmeter-optimierte Route Richtung Granada, da mein Knie seit ein paar Tagen bei Steigungen empfindlich reagiert. Trotzdem geht es wieder mitten in die Hügel hinein, täglich 1.000 Höhenmeter sind keine Seltenheit. Auf der Route gibt es keine Campingplätze, so kommen wir schneller als gedacht dazu, unsere guten Vorsätze zum budgetfreundlichen Wildcampen umzusetzen. Ob halblegal auf Picknickplätzen, neben der Landstraße oder öffentlichen Badestellen am Fluss, wir finden viele schöne Plätze. Auch ein Warmshowers Gastgeber öffnet uns wieder seinen Hof. Wenn wir keinen Campingplatz ansteuern, bedeutet das immer lange Fahrtage für uns. Es sei denn, es bricht mal wieder eine Speiche, dann können „wir“ die Zeit bastelnd überbrücken (tatsächlich übernehme ich maximal Handlangeraufgaben, Christian bastelt).

In Granada gibt es dann wieder einen Campingplatz mitten in der Stadt, das heißt, das Zelt auf der staubigen, für Autocamper ausgelegten Parzelle aufbauen. Da vermisst man dann doch direkt die selbstgewählten Übernachtungsplätze. Für das Komplettpaket Alhambra haben wir uns zu spät um Tickets bemüht, konnten aber noch Karten für die Generalife und die Gärten reservieren. So wird die „Später-Liste“ wieder um einen Punkt länger. Aber alleine in den Gärten kann man problemlos die Zeit vergessen und einen ganzen Tag verbringen. Zier- und Nutzpflanzen sind wunderschön angelegt und wir können die Aussicht ganz entspannt genießen, während uns immer wieder gestresste Besucher im strammen Schritt überholen, die noch ihr reserviertes Zeitfenster für den Besuch der Paläste erwischen müssen. Granada breitet sich zu unseren Füßen aus, von den Zinnen können wir eine Oldtimer-Moped-Parade beobachten, die gerade durch die Gassen der Altstadt fährt. Auf dem Rückweg hat sich ein Jugendchor auf der großen Treppe aufgebaut, die uns spontan zum Augenschmaus noch einen tollen Soundtrack liefern. Wir bleiben einen Tag länger, um auch vom Rest der Stadt einen Eindruck gewinnen zu können und verbummeln die Zeit in den Gassen bei Sangria und Tapas.

Zwei Tage lang sehen wir nichts als Olivenbäume, die sich wie auf einem Steckbrett in Reih und Glied bis zum Horizont erstrecken, die Straße führt entlang der Sierra de la Magina, dann wechseln wir wieder auf eine Via Verde voller Brücken und Tunnel. In der Nähe nutzt ein Biokraftwerk die Reste des Olivenanbaus zur Energiegewinnung, die Erde ist mit trockenen Thymiansträuchern bewachsen, die heiße Luft duftet mediterran mariniert. Mit dem Abschied von Andalusien wechselt auch das Anbaugebiet, in Castilla la Mancha wird eine chinesische Knoblauchsorte angebaut, die zwar größer als die einheimische Sorte ist aber auch von geringerer Qualität, wie uns berichtet wird. Wir kommen durch Albacete, die kleine Stadt der Messerschleifer. Und dann wartet ein echtes Schätzchen auf uns: wir nehmen die Strecke durch das Flusstal des Rio Jucar. Steil ragen die Wände des Tals hinauf, was an sich schon die Strecke lohnt (immerhin müssen wir aus dem Tal ja auch wieder raus klettern). Das Besondere aber sind die Häuser, die an und in die Steilwände gebaut sind. Manche mehr schlecht als recht, andere mehrstöckig und organisch mit der Felsstruktur verschmolzen. Auch eine Kirche fehlt nicht.


Und dann kommen wir in Valencia an. Durch die langen Fahrtage haben wir etwas Aufenthaltszeit rausgeradelt, bevor wir im Hinterland wieder eine Unterkunft beziehen werden. So können wir uns vier Tage lang ein bisschen die Stadt anschauen und ansonsten die Seele am Strand baumeln lassen. Denken wir. Tatsächlich werden wir den Strand nur auf der täglichen Strecke zwischen Campingplatz und Innenstadt zu Gesicht bekommen. Völlig ohne Erwartungen haut uns Valencia total aus den Socken. Mal ganz abgesehen von der tollen Lage zwischen Hügeln und Strand ist die Stadt wunderschön. Und radlerfreundlich! Nach vielen Überschwemmungen wurde der Fluss verlegt. Das alte Flussbett sollte zunächst zur Stadtautobahn werden, ein Glück entschied man aber anders. Nun zieht sich ein grünes Band durch die Stadt und verbindet die Stadt der Künste an einem Ende mit dem Biopark, einem Zoo, am anderen. Dazwischen sind Wege für Jogger, Spaziergänger und Fahrradfahrer angelegt, Tanzplätze, Pavillons, verschiedene Sport- und Spielplätze und viele Grünflächen bieten jede Menge Platz. Die Luft wird merklich abgekühlt und man kommt autofrei durch die Innenstadt. Verlässt man den grünen Gürtel, führen baulich vom Autoverkehr getrennte Radwege durch die Bezirke. Dieses Mal lassen wir uns von unseren Mägen leiten: mit der App Too Good To Go retten wir Lebensmittel vor der Tonne. Wir wählen aus den teilnehmenden Läden aus und erhalten zum Bruchteil des Normalpreises eine Überraschungstüte. So kommt Christian zu seiner ersten „Wie pule ich Gambas?“ Erfahrung. Günstig gut essen und dabei durch die Stadtviertel stromern, das ist eine tolle Art, eine Stadt zu entdecken. Dabei lassen wir uns auch die lokalen Spezialitäten nicht entgehen: Horchata ist ein kühles Erfrischungsgetränk aus Erdmandeln, das zusammen mit Fartons serviert wird. Das Agua de Valencia ist ein leichter Cocktail auf Orangensaftbasis. Während unseres Aufenthaltes wird die Fira eröffnet, die traditionellen Trachten sehen völlig anders aus, als in Cordoba.

Dieses Mal haben wir auch richtig Glück mit der Free Walking Tour. Die Italienerin Valentina bezeichnet sich selbst als Stalkerin. Sie ist von Urban Art besessen und taucht gerne mal überraschend hinter den Künstlern auf, um ihnen Fragen zu stellen. Sie brennt für die Kunst und ihre Begeisterung springt auf die Teilnehmer ihrer Street Art Tour über. Nach der letzten Flut in den 70er Jahren stieg das Wasser schnell in den engen Gassen von El Carmen und den Nachbarvierteln und sorgte für erhebliche Zerstörung. Danach wohnten nur noch die, die nirgends anders hin konnten hier, Drogen und Rotlicht machten die Gegend gefährlich und unattraktiv für das gutbürgerliche, die Enge bot jedoch auch Schutz und setzte enorm viel kreative Energie frei. Wir durchstreifen die Gassen und entdecken so viel beeindruckendes. Valentina lehrt uns verschiedene Künstler zu erkennen. Julieta möchte mit ihrem Mädchen mit den geschlossenen Augen den Betrachter zum Lächeln bringen, David de Limon ehrt mit seinem Namen die Zitrusfrucht, die neben der Orange immer vergessen wird. Chikitins Markenzeichen sind Gesichter mit multiplen Augenpaaren. Das irritiert, man hat das Gefühl, beim Betrachten blinzeln zu müssen oder zu schielen. Das pinke Kaninchen von Barbi ist nicht niedlich gemeint, sondern beschreibt einen Körperteil, so wie man im Deutschen nicht immer „Katze“ meint, wenn man „Muschi“ sagt. Die Künstler protestieren gegen die Stadtpolitik, wenn zum Beispiel im Kältesommer die Preise für Elektrizität die finanziellen Möglichkeiten der Bewohner sprengen oder der Ausbau des Hafengeländes zu Lasten von Wohnvierteln vorangetrieben wird. Mir gefallen am besten die Arbeiten von Deih, düster, bunt und im Mangastil sowie die geometrischen Figuren von Disneylexya, der stilistische Ideen aus seiner südamerikanischen Heimat einfließen lässt. Manche Aussagen sind klar, manchmal lassen sie Raum zur Interpretation. Das riesige Werk von Ericailcane zeigt ein scheuendes Pferd, das von drei Schnecken gezogen wird. Es trägt den Titel „Das trojanische Pferd“, der Künstler hat aber keine Erklärung dazu veröffentlicht. Ich sehe, wie die Gesellschaft ablegt, was sie zu sein vorgibt: der Mantel der Zivilisation fällt, darunter kommt das Animalische zum Vorschein, das vielleicht nichts Böses will aber allein aufgrund seiner Stärke große Zerstörung anrichten kann, wenn es gezwungen oder verängstigt wird. Valentina bietet für die Schnecken die Interpretation von Politik, Medien und Religion an. Was seht ihr?


Es ist Sommer, es ist Juli. Und in ein paar Tagen jährt sich meine Abfahrt. Ich bin ein Jahr unterwegs, habe über 11.000 Kilometer mit der Kraft meiner Beine hinter mich gebracht und bin um unzählige Erinnerungen reicher. Die Entscheidung für diese Reise bereue ich keinen Moment.

1 Kommentar zu „Valencia, du Schöne“

  1. Herzlichen Glückwunsch!
    Ein Jahr unterwegs, Ich erinnere mich noch an unseren „schnellen“ Abschied am Bahnhof in Osnabrück. Aber genauso an die schönen Treffen zwischendurch, so waren wir euch immer nah. Macht weiter so! Alles Liebe MAMA

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